Es ist ein bewährtes Romankonzept: Zeitgeschichte wird entlang des Schicksals einzelner Charaktere oder parallel zu ganzen Familiensagas erzählt. Versuchen tun das viele; wenigen wie etwa Nino Haratischwili https://www.buechercheck.com/2022/10/08/das-achte-leben-fuer-brilka-von-nino-haratischwili) oder Catalin Dorian Florescu (https://www.buechercheck.com/2022/05/23/der-feuerturm-von-catalin-dorian-florescu/) gelingt es. Unangefochtener Champion der Disziplin ist und bleibt aber der mittlerweile 74-jährige Brite Ian McEwan. Sein vor 20 Jahren erschienenes Meisterwerk «Abbitte» findet in «Lektionen» eine würdige Nachfolgerin. Pflichtlektüre!
Roland Baines, Sohn eines Berufssoldaten, wird als Jugendlicher im Internat von seiner Klavierlehrerin sexuell missbraucht und dadurch früh aus der Bahn geworfen. Als erfolgloser Tennis-Pro, Pianist und Poet, der sein Leben aber mit dem Texten von Postkarten fristet, heiratet er die Deutsche Alissa, die sich im selben Metier erfolgreich entwickelt. Bald nach der Geburt des gemeinsamen Sohns verschwindet sie spurlos aus beider Leben, um sich ganz ihrem schriftstellerischen Schaffen zu widmen. Es ist das Jahr 1986, und während die Welt unter dem Eindruck der Kernkraftwerk-Schmelze in Tschernobyl steht, beginnt Roland nach Antworten auf Fragen seiner Herkunft und seinem rastlosen Leben zu suchen.
Mit dem Altern des Protagonisten verändern sich im Verlauf der Story auch das Personal in seinem Umfeld sowie die politischen und historischen Rahmenbedingungen, oft in Form dramatischer Entdeckungen und Entwicklungen wie dem Auftauchen eines Halbbruders oder dem Mauerfall 1989. Doch wie spektakulär die Wendungen und Veränderungen in Rolands Leben auch sein mögen – McEwan schildert sie aus der Aussensicht des neutralen Beobachters in seinem so wunderbar unaufgeregten und unbeteiligten, gelassen-distanzierten Stil. Und arbeitet mit diesem Kontrast die bewegenden Seelennöte seines Charakters Roland auf jene eindrückliche Art und Weise heraus, die kaum ein Zweiter so meisterhaft beherrscht wie er.