Von Hunden und ihren Haltern sagt man ja, dass sie sich mit der Zeit physiognomisch und sonst zu ähneln beginnen. Den Eindruck hatte ich – natürlich mit anderen Vorzeichen – auch vom Buch «Sich lichtende Nebel» und seinem Autor Christian Haller. Auf Fotos von der Verleihung des Schweizer Buchpreises sieht dessen letztjähriger Träger aus wie ein pensionierter Brugger Geschichtslehrer: Korrekt und kompetent, trocken und arm an Temperament. Und so kam mir auch seine ausgezeichnete Novelle «Sich lichtende Nebel» vor.
Der 82-jährige Schweizer Schriftsteller aus Brugg schreibt über den deutschen Physiker Werner Heisenberg, Erfinder der Quantenmechanik. Als einer, der an der Matur in Physik eine «2» hatte, bin ich in diesen Sphären verloren und deshalb dankbar für die Haller’sche Übungsanlage. 1925 sitzt besagter Heisenberg auf einer Parkbank in Kopenhagen und sieht, wie ein vorübergehender Mann im Lichtkegel einer Strassenlampe auftaucht, daraufhin im Dunkel verschwindet und im Licht der nächsten Laterne wieder erscheint. Aus dieser Beobachtung definiert der Wissenschafter dann seine revolutionäre Theorie. Der namenlose Passant weiss nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung der Quantenmechanik gespielt hat, kämpft aber seinerseits mit einem physikalischen Phänomen. Der verwitwete Geisteswissenschafter stellt fest, dass er manchmal «in die Materie hineinschauen» kann, was ihm verständlicherweise nicht einmal sein letzter verbliebener Freund glauben mag.
Diese beiden Lebenslinien verknüpft Haller zu einem «literarischen Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt», wie es Paul Jandl in der Neuen Zürcher Zeitung formuliert hat. Wider mein Erwarten hat sich bei der Lektüre der Physiknebel auch für mich phil.-I-er genügend gelichtet, um die zentrale Aussage zu verstehen. Dass ich das Bändlein auch gekauft und gelesen hätte, wenn sein Autor dafür nicht mit dem Schweizer Buchpreis 2023 ausgezeichnet worden wäre, glaube ich allerdings weniger.